Begegnung mit einem Meistererzähler
Dietikon Tschingis Aitmatow im Rahmen von „Kultur in Dietikon im Stadthaus
Der aus Kirgisien stammende Aitmatow, der wohl renommierteste Erzähler weltweit, stellte seinen neuen Roman „Schneeleopard“ vor.
Im vollen Parlamentssaal war eine Lesergemeinde, die seinen Ausführungen grosse Aufmerksamkeit schenkte.
Helen Busslinger-Simmen
Er schrieb seit Beginn seiner Autorentätigkeit über die Gesellschaft im Umbruch, über die Natur, über politische Strömungen, auch über „Liebe ohne
Bedingungen“. Dass die Themen, die Tschingis Aitmatow in seinen Büchern aufnimmt, viele beschäftigen, zeigte der Aufmarsch von rund
Hundertfünfzig Interessierten im Stadthaus. „Es ist eine Sensation, dass Aitmatow auf seiner Schweizer Tournèe in Dietikon Halt macht“, sagte Thomas
Pfann bei seiner Einführung. Der Dietiker Alpinist und Journalist ist oft in Aitmatows Heimat Kirgisien, er hat denn auch der Kulturkommission den heissen
Tipp für diesen Anlass gegeben.
Lebensfragen statt „Fun“
Aitmatow begrüsste seine Gäste aufs Liebenswürdigste und sagte, er nehme an, dass er im Saal wohl Menschen vor sich habe, die nicht bloss Spass
erleben wollten. Es werde ein Abend mit Tiefgang, auch mit schwierigen Gedanken, mit Melancholie. Aitmatow-Liebhaber hatten es nicht anders erwartet. In
allen seinen Büchern werden die Dinge in Frage gestellt, begegnet man philosophischen Überlegungen und Impulsen zum Nachdenken. Stets in
wunderbare Geschichten verwoben; Weltberühmtheit erlangte etwa die Liebesgeschichte „Dshamilja“.
Aitmatow liess einen Abschnitt über die Opernsängerin Aidana vorlesen: Sie wendet sich von der klassischen Oper ab, zieht mit einem reichen Showmaster
durchs Land, rennt dem Geld nach und lässt sich als Popstar feiern. Hier offenbarte Aitmatow seine Kritik an einer Spass-Gesellschaft, die nach
oberflächlichem Ruhm und Luxus strebt und sich von Nichtigkeiten blenden lässt.
Schmerzliche Veränderungen
Neben dem Schneeleoparden sei die zweite wichtige Figur in seinem neuen Buch der Journalist Arsen Samantschin, berichtete der Dichter. Arsen sei
einsam geworden, und wie der Leopard habe er Angst vor einschneidenden Veränderungen und vor schmerzlichen Entwicklungen. Aitmatow liess durchblicken,
dass sich im Verlauf der Erzählung die Lebenslinien des Schneeleoparden und des Journalisten auf dramatische Weise kreuzen.
Als Aitmatow die Vorbereitungen zur Jagd auf den Schneeleoparden vorlesen liess, begann man zu ahnen, dass in Aitmatows Herkunftsland Kirgisien
die Spannungen zwischen arm und reich enorm sein müssen, dass der Schriftsteller mit Sorge an seine Heimat denkt. Wie man es bei Aitmatow gewohnt ist,
liess er an diesem Abend gleichnishafte Legenden einfliessen und beschwor den Einklang von Mensch und Natur.
Kraftvolle, elegante Sprache
„Ich liebe Aitmatows Bücher wegen der Poesie seiner Naturbeschreibungen“, sagte eine Leserin vor dem Ereignis im Parlamentssaal. Tatsächlich ist Aitmatow
nicht zuletzt auch wegen seiner Schilderung der kirgisischen Berggebiete mit ihrer archaischen Kultur berühmt geworden. Auffallend ist seine enge Beziehung
zu Tieren aller Art. Er beschreibe nicht nur im „Der Schneeleopard“ ein Tier in allen Facetten, erwähnte er, in jedem Buch spiele wieder ein anderes Tier eine
eigene Rolle.
Da Aitmatow auf Russisch schreibt und auf Übersetzer angewiesen ist, wurde er von Freunden begleitet. Ganna-Maria Braungardt moderierte den Abend
und übersetzte gewandt von russisch auf Deutsch, Gian Töndury las die Texteinlagen. Der Abend könne nicht mehr sein als ein sehr kurzer Einblick in sein
neues Buch, betonte Aitmatow, lesen müsse man den Roman schon selbst. „Und zwar vom ersten bis zum letzten Satz, um das Buch wirklich zu verstehen“, fügte
er augenzwinkernd bei.