Altdorfer Dorfgeschichten

Folgende Porträts sind im
Urner Wochenblatt erschienen:

Magie der Musik

Helen Busslinger-Simmen
Den ersten Zugang zur Welt der Musik erhielten wir damals von den Eltern, Es gab nicht viele Tonträger, so war man auf die Musik, die in der Familie angehört und gespielt wurde, angewiesen. Das Radio lief, man besass einen Grammophon, man machte Hausmusik. Die einen Familien mochten traditionelle Musik, andere pfiffen bei Schlagern mit, bei andern war Klassik angesagt. So oder so lernten viele ein Instrument, denn der Musikunterricht in Gruppen war gratis.

Die meisten Kinder haben, wie es heute noch üblich ist, Flötenstunden besucht. Ich durfte nach wenigen Monaten Unterricht in einem Konzert bei der Kindersinfonie von Mozart mitspielen. Zwei Töne, den Kuckucksruf. Mein musikalischer Beitrag hätte nicht kleiner sein können. Trotz des minimalen Einsatzes misstraute ich meinen Kenntnissen. Ich fürchtete, mit einem schrillen Flötenton zur Unzeit den andern das Konzert zu vermiesen. Das wollte ich nicht. Deshalb bewegte ich bloss meine Finger, auf und ab, ich liess keinen Ton hören.

Im Geigenunterricht waren wir alle Nieten. Wir gingen mit der Geige in die Musikstunde, hörten aber nie richtig zu. Wie wäre es sonst möglich gewesen, dass ich auf die Frage des Musiklehrers nach dem Blitzstimmer antwortete, das sei ein Blitzableiter. Ich weiss nicht, wie sehr unser Lehrer unter dem Gekratze unseres Geigenspiels gelitten hat. Wie oft habe ihn später in Gedanken um Verzeihung gebeten. Es war mangelnde Übung und schlicht und einfach Unvermögen.

So wie uns in der Geigengruppe ging es noch andern: Man übt ungern und unregelmässig, nichtsdestotrotz profitierte man samt den falschen Tönen fürs ganze Leben. Ich spielte im Schulorchester mit einem Gleichaltrigen die zweite Geige. Uns war bewusst, dass wir dem Spiel keine Glanzlichter aufsetzten. Stoisch ertrugen wir unser Schicksal als „unmusikalische Kinder“, trotteten zu den Orchesterstunden, jede Woche, in einer Art Fatalismus. Dass Musik heute bei mir und bei vielen andern eine solch tragende, fast lebenswichtige Rolle spielt, haben wir vielleicht diesem Durchhalten zu verdanken.

Ein Ereignis damals waren die Schülerkonzerte, wo Buben und Mädchen jeden Alters mit dem eingeübten Stück auftraten und wir hautnah erlebten, dass Musik verbindet. Wir waren eine Art grosse Familie, es wurde Beifall gespendet, man kritisierte einander, bewunderte jene, die fehlerfrei spielten und Talent hatten. Wir lernten, zuzuhören und ein Urteil abzugeben, - erste Übungen als Musikkritiker.

Richtig das Feuer in mir angezündet hat der Gesangslehrer. Statt mit uns zu singen, sprach er mit ansteckender Begeisterung über Komponisten und Kompositionen. Was müssen das für Menschen gewesen sein, die so wunderbare Musik, die Jahrhunderte überdauern, geschrieben haben, fragte ich mich. Was damals zudem in den Vereinen, vom Männerchor über das Orchester bis zum Jodelclub, geboten wurde, war beachtlich - das ganze Spektrum der Musikstile.

Nicht vielen war es möglich, auswärts Konzerte zu besuchen, so griff man zum Naheliegendsten: Man studierte die Werke selbst ein und trat damit auf, dabei schreckte niemand vor grossen Werken zurück. Man inspirierte sich gegenseitig, Musikkultur wurde nicht den Städten überlassen. Dass nicht gerade Opernaufführungen zustande kamen, war erstaunlich, immerhin wagte man sich an Operetten, noch wochenlang und pfiff man die eingängigen Melodien. Der Klangteppich, der uns damals zur Verfügung stand, war weit ausgebreitet und hatte alle Farben, von Gregorianik über Katzenmusik und Kammermusik bis zu grossen Opern. Wir suchten unsern persönlichen Standort, um später genussvoll die eigene musikalische Passion zu pflegen.