Altdorfer Dorfgeschichten

Folgende Porträts sind im
Urner Wochenblatt erschienen:

Wenn das Dorf Kindern und Narren gehört

Helen Busslinger-Simmen
Damals in den fünfziger Jahren, als Kinder brav schienen und bloss heimlich Allotria trieben, war einmal im Jahr Übermut erlaubt. Mehr noch, Narreteien waren geboten, deshalb wartete man jedes Jahr sehnsüchtig auf die Fasnachtszeit. Jetzt war alles anders. Nie werde ich die Leichtigkeit, in der die Erwachsenen zu schweben schienen, vergessen. Ausnahmsweise nahm man die Arbeit nicht so ernst wie sonst, man schaute den Umzügen zu, die Katzenmusik brachte Stimmung und über allem lag ein Hauch von „Dolce vita“.

Es war eine süsse Zeit. In den Küchen wurden - je nach Backkunst der Mütter – Fasnachtsküchlein, Berliner, Krapfen und Pasteten gebacken. Der Geruch nach erhitztem Öl, nach in Kirsch eingeweichten Rosinen für die Pasteten, nach frischen Backwaren trieb alle in die Küche. In Schaufenstern hingen Masken und Perücken, und wir Kinder wurden nie müde, die fasnächtlichen Utensilien anzuschauen. Überhaupt war Fasnachtszeit so, wie wir uns die Tage das ganze Jahr über wünschten. Närrisch.

Die Fasnachtskleider, die wir Kinder trugen, kann man mit den heutigen kostbaren Gewändern nicht vergleichen. Geld für Vergnügen war eigentlich nicht vorhanden, deshalb war Improvisieren angesagt. Die meisten Mütter konnten nähen und schneiderten etwa ein Gilet, eine Hose, wenn sie Zeit hatten. Wir inspizierten die Schränke und stellten aus Vaters und Mutters Kleidern das zusammen, was uns passend schien.

Unsere Vorbilder waren jene, die sich der Katzenmusik verschrieben hatten. In ihren bunten Kostümen schienen sie das Dorf zu beherrschen. Die Katzenmusiker taten, was ihnen gefiel, gingen in die Beizen, tranken Wein und Bier, assen Würste und Süsses, spotteten und machten Klamauk. Von Arbeit keine Spur. Wir Kinder trotteten den Gruppen nach. Nie verstand ich, warum wir so lange vor den Restaurants warten mussten, bis es weiter ging mit dem Umzug. In die Beizen rein durften wir nicht, und weil wir keinen Einblick hatten, vermuteten wir das reine Vergnügen, jedenfalls etwas Verbotenes oder Himmlisches. Jedenfalls kamen unsere Helden immer beschwingt aus den Beizen und trommelten lauter als vorher.

Wer im Dorf wohnte, hörte Tag und Nacht Klänge der Katzenmusik oder einzelne Paukenschläge. Kein Nicht-Urner versteht, warum ein einziger Ton der Katzenmusik einen elektrisieren und in Aufregung versetzen kann. Die Trommelwirbel, die hellen Trompetentöne, die dumpfen Paukenschläge, die geradewegs in den Bauch gehen, der Schrei „Zogä!“, dazu vielleicht der Föhn, verhudelte Gestalten oder schön maskierte Leute...Wir zitterten vor Vergnügen. Es war prickelnd wie Champagner, und das ist es heute noch.

Nachts huschten die Maskierten von einer Beiz in die andere. Jene, die wie wir mitten im Dorf wohnten, blieben halbe Nächte an den Fenstern, um etwas von den faszinierenden Gestalten und vom süssen Leben zu erhaschen. Einmal sahen wir eine Frau, als Charlie Chaplin verkleidet, beim Gemeindehaus stehen. Sie spielte den grossen Clown perfekt, liess das Stöckchen tanzen, lehnte sich gedankenschwer an die Mauer, tappte im Chaplin-Schritt vorwärts. Ohne Zuschauer, sie spielte Chaplin für sich selber. Es war die reine Poesie. Auch das war möglich, nicht nur Krach und Knalliges.