Uri von aussen gesehen

Folgende Porträts sind in der
Neuen Urner Zeitung erschienen:

Christian Schlüchter

«Gletscherschmelze ist normal»

Viele Leute beobachten den Rückgang der Gletscher mit Sorge. Doch der Eiszeit-Geologe Christian Schlüchter sagt, dass früher die Gletscher kleiner waren.

Helen Busslinger-Simmen

Christian Schlüchter, welche Urner Gletscher kennen Sie?

Christian Schlüchter: Den Dammagletscher und sein Vorfeld kenne ich gut. Eine Studentin unseres Instituts hat dort im Rahmen eines grossen ETH-Projekts eine Masterarbeit zu den Schwankungen des Gletschers gemacht. Ihre Aufgabe war die Kartierung und Datierung der Moränenwelle. Diese Moräne ist wunderschön.

Urner Gletscher schrumpfen, viele stimmt das nachdenklich. Mit gutem Grund?

Schlüchter: Wir leben in einer sehr konservativen Zeit, und viele Menschen möchten - vor allem in der Natur - alles so bewahren, wie es gerade ist. Viele Menschen sind auch sehr von natürlichen Kreisläufen entfremdet. Und so fällt es schwer, Veränderungen als solche hinzunehmen. In einem individuellen Wahrnehmungsfeld sind Veränderungen natürlich bedrohlich. Der Gletscherrückgang ist ein völlig normaler Vorgang. In unseren Augen müssen die Alpen von Eis bedeckt sein. Aber das war lange nicht immer so. In den vergangenen 10 000 Jahren waren die Gletscher kleiner als heute. Zur Römerzeit waren gar keine Gletscher vorhanden.

Trotzdem: Der Rückgang der Gletscher macht vielen Angst.

Schlüchter: Früher hat man im Oberwallis gegen Gletschervorstösse heilige Prozessionen durchgeführt. Heute ist es umgekehrt: Man macht Prozessionen für den Gletschervorstoss. Grosse Veränderungen können Ängste auslösen. Die Frage ist dann, ob und wie wir mit Veränderungen leben können.

Am Gemsstock kämpft man mit Folien gegen die Gletscherschmelze.

Schlüchter: Gletscher unter Folien: Das ist ein gletscher- und strahlenphysikalisches Experiment. Hier überlasse ich die Diskussion den Kollegen von der ETH-Glaziologie.

An welche Erlebnisse im Kanton Uri erinnern Sie sich?

Schlüchter: Eine Gewitternacht im Maderanertal, als ich in einem Zelt übernachtet habe. Und sonst waren es viele gute Exkursionen. Bei Intschi konnte ich für die SBB eine Beurteilung machen, zudem war ich an den Lawinenverbauungen in Andermatt beteiligt. Eine gute Erfahrung war auch die Einladung zu einem Vortrag der Naturforschenden Gesellschaft Uri.

Sie untersuchen alte Hölzer im Umkreis von Gletscherrückgang. Was treibt Sie an?

Schlüchter: Die Neugier. Was kommt denn zum Vorschein? Gletscher sind so dynamisch, wie wir das vor 15 Jahren noch gar nicht wussten. Und sind sehr komplex. Solche dynamischen Systeme müssen doch zum Nachdenken anregen.

Was möchten Sie den Urnern sagen?

Schlüchter: Besucht doch eure Grossmütter und Grossväter oder Urgrossmütter und Urgrossväter und lasst euch ihre Geschichten erzählen - vom Wetter, vom Schnee und wie sie die Urner Berge noch erlebt und gesehen haben. Fragt die älteren Menschen, was sich wo und wie verändert hat, und schreibt diese Geschichten auf für die Familien, fürs Dorf und für den Kanton.

Hinweis

Prof. Dr. Christian Schlüchter befasst sich als Geologe an der Universität Bern intensiv mit dem Gletscherrückgang. Bei seinen Erforschungen der Schweizer Gletscher relativiert er die Folgen der Klimaerwärmung. Seine These: Früher waren die Alpen grüner als heute. Gletscher verändern sich.